„Keinen Tag verschenken, es kann der letzte sein. Jede ungelebte Stunde wirst du noch bereu‘n. Jeder Sonnenuntergang färbt die Erde rot. Wir sitzen vor dem Wasserfall im selben lecken Boot…“
Es ist Samstagabend, 23.00 Uhr. Ich stehe auf dem gut gefüllten Marktplatz und höre auf die Lieder von Heinz-Rudolf Kunze. Es ist Rolandfest und überall treffe ich fröhliche Menschen in Feierlaune. Ich freue mich über den Mut des Musikers, in diesem Rahmen von Abschied und Sterben zu singen. In der Menschenmenge entdecke ich Menschen, die ich im vergangenen Jahr nach einem Verlust begleitet habe. Abschied gehört zum Leben und hier erlebe ich das hautnah. Sofort fallen mir Gedanken von anderen Poeten ein.
Hermann Hesse schreibt: „Wir haben Leid und Krankheit erlebt, wir haben Freunde durch den Tod verloren, und der Tod hat bei uns nicht nur von außen ans Fenster geklopft, er hat auch in uns innen Arbeit getan und Fortschritte gemacht. Das Leben, das einst so selbstverständlich war, ist zu einem kostbaren, immer bedrohten Gut geworden, der selbstverständliche Besitz hat sich in eine Leihgabe von ungewisser Beständigkeit verwandelt. Aber die Leihgabe mit unbestimmter Kündigungsfrist hat ihren Wert keineswegs verloren, die Gefährdung hat ihn eher noch erhöht. Wir lieben das Leben nach wie vor und wollen ihm treu bleiben, unter andrem um der Liebe und Freundschaft willen, die wie ein Wein von guter Herkunft mit den Jahren an Gehalt und Wert nicht abnimmt, sondern wächst.“
Schon vor etwa 3000 Jahren hat der König David ein Lied geschrieben, in dem es heißt : „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12)
Echte Lebensfreude entsteht, wo Zeit als wertvolles Geschenk erkannt wird. Wer klug wird und seine Zeit bewusst erlebt, bewegt sich nicht mehr an der Oberfläche. Das Leben bekommt Tiefgang. Da bleibe ich stehen und betrachte den Regenbogen oder genieße den Sonnenuntergang. An jedem Tag wird es besondere Momente geben, die von außen betrachtet unspektakulär sind. Oft sind es aber genau diese Augenblicke, die Entspannung und Dankbarkeit ermöglichen.
Es kann eine Hilfe in der Trauer sein, wenn eigene Lebenszeit täglich als Chance erkannt wird. Der neue Tag ist eine neue Möglichkeit gegen das Vergessen und für das Leben. Gerade weil das Leben eine „Leihgabe mit unbestimmter Kündigungsfrist“ ist, sollten wir „keinen Tag verschenken“, um mit Heinz-Rudolf Kunze zu sprechen, denn „es kann der letzte sein“.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie den Wert des Lebens neu entdecken und klug mit der Ihnen geschenkten Zeit umgehen.
Dorothee Oesemann, Trauerrednerin – Trauerbegleiterin